Ioana-Izabela Odor (geb. 1950)

Die Frau im blauen Kleid. Sie wurde an einem 22. Dezember geboren. Am 14. Juni 1990
ging ein Foto um die Welt: Eine Frau wird von mehreren Bergarbeitern in Overalls, ausgestattet mit Helmen, Schlagstöcken und Knüppeln, gewaltsam weggeschleppt. Einer der Männer ist in die rumänische Flagge eingewickelt. Das Bild wurde an jenem Morgen des 14. Juni 1990 vom Fotografen Andrei Iliescu für France Presse im Zentrum von Bukarest, in der Nähe des Universitätsplatzes, aufgenommen. Es war jener Ort, an dem einige Monate zuvor Menschen im Kampf gegen den Kommunismus gestorben waren und an dem die Marathon-Demonstration gegen das neuerrichtete politische Regime stattfand. Ioana-Izabela Odor war 39 Jahre alt und arbeitete als Forscherin am Institut für Metrologie in Bukarest. Sie hatte an den Demonstrationen gegen die Front der Nationalen Rettung auf dem Universitätsplatz teilgenommen und war gerade gegen die brutale Misshandlung eines älteren Mannes durch Bergleute in der Nähe des Dalles-Saals eingeschritten. Unmittelbar danach wurde sie von mehreren Bergarbeitern, die sich plötzlich um sie scharten, angepöbelt und geschlagen. Unter ihnen war auch ein Mann, der aufgrund der Sauberkeit seiner Haut, seines Overalls und seines Hemds nicht gerade wie ein Bergarbeiter aussah. Einige ihrer ersten Angreifer waren die Bergleute auf dem Foto. Sie sagten ihr, sie würden sie zur Polizei bringen. Sie nahm wahr, wie einige Bukarester Bürger die Szene aus der Ferne beklatschten. Die Bergleute schlugen sie weiter, bis sie in der Lobby des Hotels Intercontinental ankamen. Dort wurde sie von einem Zivilisten in einem weißen Hemd in Empfang genommen, der ihre Personalien und ihren Berufsausweis überprüfte. Der Mann geleitete sie hinaus und riet ihr, nicht wieder in diese Gegend zurückzukehren. Zu Hause angekommen, stellte sie fest, dass sie blaue Flecken am Rücken, an der Hüfte und an den Armen hatte, ein Zahn fehlte. Die “Mineriade” vom 14. und 15. Juni 1990 war die dritte ihrer Art im post-revolutionären Rumänien und die brutalste aller ähnlichen Aktionen der Bergarbeiter. Am Morgen des 14. Juni wurden mehrere Tausend angereiste Kohlekumpel am Bukarester Bahnhof direkt aus den Zügen von Vertretern der Ordnungskräfte und Geheimdienstmitarbeitern übernommen und zu vorher festgelegten Schlüsselstellen geleitet: zu den Zentralen der Oppositionsparteien oder der oppositionellen Presse bzw. zu den Wohnungen von Gegnern der neu eingesetzten Macht. Die Gruppen griffen willkürlich sowohl Einwohner der Stadt an als auch Menschen, die mit Anti-FSN-Demonstrationen in Verbindung standen. Die Bergleute behaupteten, sie würden auf dem Universitätsplatz Blumen pflanzen wollen, verwüsteten aber die Geologische Fakultät, das Hauptquartier der Studentenvereinigung, die Fakultät für Sprache und Literatur, die Mathematik-Fakultät und das Institut für Architektur. Am 14. Juni ermutigte Ion Iliescu, Vorsitzender des Provisorischen Rats der Nationalen Einheit und gewählter Präsident Rumäniens, die Bergarbeiter, den Universitätsplatz zu besetzen, um gegen “faschistische Elemente, viele von ihnen unter Drogeneinfluss”, vorzugehen. Am 15. Juni dankte er den Bergarbeitern dafür, dass sie “eine starke Kraft mit hoher staatsbürgerlicher Disziplin” darstellten und erweckte so den Anschein, sie hätten die Demokratie in Rumänien gerettet. Die Bilanz dieser Tage umfasst mehrere durch Schüsse getötete Menschen (offiziell vier), mehr als 1.300 Personen mit körperlichen Verletzungen und mehr als 1.200 Menschen, die aus politischen Gründen ihrer Freiheit beraubt wurden. Bis heute hat die rumänische Justiz noch niemanden wegen dieser Straftaten verurteilt.

Die Aktion löste den ersten Massenexodus von rumänischen Staatsbürgern ins Ausland aus. 
Ioana-Izabela Odor ist im Ruhestand und ehrenamtliche Vorsitzende der Einwohnergemeinschaft eines Wohnblocks. Sie hat verziehen, aber nicht vergessen.

0

Scrie aici cuvântul căutat și apoi apasă ENTER